Die Herausforderungen digitaler Staatsbürgerschaft in Zeiten grenzenloser Kommunikation

Ob Gelbwesten, #FridaysForFuture oder Rezos Video über die CDU, in ganz Europa tragen BürgerInnen immer wieder ihren Unmut über politische Entscheidungen auf der einen und Forderungen für mehr Mitspracherecht auf der anderen Seite ins Netz und auf die Straße. Ein wichtiger Hoffnungsträger bleibt dafür ein inklusives, ermächtigendes Netz. Auch Staatsbürgerschaften könnten daher bald digitalisiert und innoviert werden. Ermöglicht uns das neue Formen der Partizipation und stärkt so die europäische Demokratie? Mit dieser großen Frage beschäftigte sich der Digitale Salon anlässlich der Europawahl. Im aktuellen Blogbeitrag fassen wir für euch die wichtigsten Argumente der Diskussion zusammen.

Analoger als die Europawahl geht es eigentlich nicht, oder? Ausgedruckte Adresslisten, Papierzettel in Umschlägen und freiwillige Wahlhelfer, die per Hand mit Strichlisten die Stimmen auszählen. Doch die gerade stattgefundene Wahl des Europäischen Parlaments ist für uns Anlass zu fragen, ob Staatsbürgerschaft und europäische Beteiligung heute tatsächlich so analog bleiben muss. Mit unserem DECiDe-Projekt, das wir im Blogbeitrag Anfang des Jahres vorgestellt haben, waren wir unter den drei Gästen auf dem Panel des Digitalen Salons des Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft, das hier aufgezeichnet wurde. Die Moderatorin Sophia Wetzke diskutierte außerdem mit Damian Boeselager, dem Vice President der Volt-Partei, die mit Vertreterinnen aus acht Ländern bei der Europawahl antritt und mehr föderale Mitgestaltung durch das europäische Parlament erreichen will. Mit dabei war zudem Kai Wagner, Business Developer bei Jolocom, das als Blockchain-Unternehmen in einem weltweiten Netzwerk die Idee von digitaler Identität verändern will und dafür an einem einheitlichem, internationalen Protokoll arbeitet.

Im Zentrum der Diskussion stand die Frage welche Daten eigentlich unsere Identität ausmachen und wie das mit demokratischer Beteiligung zusammenhängt. Dabei machte Kai Wagner von Jolocom deutlich, dass unsere digitale Identität schon jetzt nicht an den nationalen Grenzen endet. So haben wir internationale Schattenprofile auf vielen Plattformen, auf denen wir uns nie angemeldet haben. Die Fähigkeit selbst darüber zu entscheiden, welche Aspekte meiner Identität ich nutzen und öffentlich machen will, sei daher der Ausgangspunkt jedes Konzepts einer digitalen Staatsbürgerschaft, die dann auch zur politischen Beteiligung eingesetzt werden kann. Doch wer ist die Vertrauensstelle, die diese e-Identität verifiziert? In Zukunft seien das möglicherweise Allianzen aus Staat und privatwirtschaftlichen Unternehmen. Eine Lösung, die Kai Wagner von Jolocom vorschlägt, ist, dass es kontextabhängige Knotenpunkte für Vertrauen geben muss. Wenn ich wählen will, dann muss das Vertrauen durch den Staat ausgesprochen werden, in dem ich lebe. Beim Carsharing reicht eine andere Instanz, um meinen Namen und vor allem meine Zahlungsfähigkeit und Fahrtauglichkeit zu bestätigen. So gäbe es dann je nach Legitimationsbedürfnis verschiedene Vertrauensniveaus.

Durch die Kooperation mit der Forscherin Monique Morrow wissen wir, dass eine eindeutige digitale Identität, ein so genannter “unique identifier” ein möglicher sinnvoller erster Schritt sein könnte. Dieser muss nicht mal unbedingt an Nationalstaaten gebunden sein. Im Rahmen des Projekts The Humanize Internet können Geflüchtete mithilfe einer Blockchain-Identitätslösung eine minimale Identität konstruieren, wenn sie alle anderen Identitätsnachweise auf der Flucht verloren haben. Sie können so ihre Basisdaten, also z.B. ihren Namen, ihr Herkunftsland und ihre Ausbildung nachweisen. In Dänemark hat jede Bürgerin bereits eine solche Personenkennzahl und kann diese in der Apotheke, in der Bank oder beim Amt benutzen. Das wäre ein Riesenschritt für Minimalservices der digitalen Verwaltung.

Was bringt die digitale Identität nun aber für die Demokratie? Natürlich ermöglichen technische Lösungen eine oftmals einfachere und kostengünstigere Beteiligung. Welche anderen Gestaltungsoptionen werden damit umsetzbar, die jetzt noch nicht denkbar sind? Genau mit dieser Frage beschäftigen wir uns im Rahmen unseres Projekts kontinuierlich. So ist eine unserer zentralen Annahmen, dass Menschen, die für eine Zufallsabstimmung ausgewählt werden, verantwortungsbewusster mit ihrer Stimme umgehen. Um diese Annahme zu testen, führen wir mehrere Feldtests durch. Die erste Runde an den Berliner Humboldt-Universität haben wir im Januar abgeschlossen und nun einen funktionierenden Prototypen fertiggestellt. Damian Boeselager hat gleich mal großes Interesse von VOLT zum Austesten unserer Technologie signalisiert. Da wir aktuell auf der Suche nach einem Kooperationspartner für den letzten Feldtest diesen Sommer sind, werden wir ihn gern beim Wort nehmen und in den nächsten Wochen das spannende Gespräch fortsetzen.

Wenn ihr diesen Beitrag lest und auch denkt, eure Organisation könnte auch Verwendung für eine zufallsbasierte Abstimmung haben, dann schreibt uns gern. Im nächsten Blogbeitrag im Sommer berichten wir euch ansonsten davon, wie der letzte Feldtest gelaufen ist.